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Agrarforschung
Untersuchungen zur Ökologie einer freilebenden Rehpopulation und zu den Auswirkungen von Managementmaßnahmen

M. Pegel und G. Thor, Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt - Aulendorf, Wildforschungsstelle
Freilanderhebungen 1989 bis 1996

Problemstellung

Das Rehwild ist unsere häufigste Wildart. Trotzdem gibt es viele Kenntnislücken zur Biologie und Ökologie dieser Wildart. Ein zeitgemäßes jagdliches Management verfolgt zwei Ziele:

  1. Möglichst naturnahe Hege und Bejagung unter Berücksichtigung der Ansprüche des Rehwildes.
  2. Ausreichende Bestandsregulation zur Vermeidung von Wildschäden in Wald und Feld.

Das Projekt wurde daher unter folgenden Fragestellungen durchgeführt: In welcher Dichte können Rehe überhaupt vorkommen, wie setzt sich die Population zusammen und wie nutzt sie ihren Lebensraum und die Vegetation? Welchen Einfluß hat die Bejagung, wie hoch muß der jagdliche Eingriff sein, um den Bestand zu begrenzen, wie kann die jagdliche Nutzung geplant werden? Ist eine Winterfütterung notwendig, welchen Einfluß hat sie auf die Rehe und auf die Verbißbelastung der Vegetation?

Untersuchungsmethode

Die Untersuchungen wurden in einem ca. 80 ha großen, inselartig in der Feldflur liegenden Waldstück auf der Schwäbischen Alb durchgeführt. Die Datenerhebungen im Freiland erfolgten von 1989 bis Frühjahr 1996 untergliedert in zwei Versuchsphasen. In einer ersten Phase erfolgte eine intensive Winterfütterung, in der zweiten Versuchsphase wurde die Fütterung ganz eingestellt. Methodische Hilfsmittel waren u.a.: Fang und Wiederfang, Markierung eines großen Teil des Bestandes zur Erleichterung von Bestandsermittlungen, Durchführung von systematischen Beobachtungen und Zähltreiben, Telemetrie, Verbißaufnahmen und vegetationskundliche Erhebungen auf Probeflächen.

Ergebnis

Die zu Versuchsbeginn (bei intensiver Winterfütterung) ermittelte Dichte gehört zu den höchsten, bislang jemals im Freiland ermittelten Rehwilddichten (Frühjahr 1990: 81 Rehe/100ha Wald; Herbst 1990: 108 Rehe/100ha Wald). Diese hohe Dichte wird ermöglicht durch einen optimalen Lebensraum mit hohem natürlichem Äsungsangebot im Wald und in der umgebenden Feldflur; durch intensive Winterfütterung; durch einen hohen Überlappungsgrad der Streifgebiete bei weiblichen Rehen, sowie nicht zuletzt durch eine zurückhaltende Bejagung, die den Zuwachs nicht abschöpft.

Der über den gesamten Untersuchungszeitraum rückläufige Rehbestand halbierte sich innerhalb von 5 Jahren, obwohl die jagdliche Nutzungsrate bezogen auf den jeweiligen Bestand gleich blieb. Die Bestandsabnahme wurde durch verschiedene Faktoren hervorgerufen, aber die Einstellung der Fütterung war dabei eine bedeutende Ursache. Entgegen den Erwartungen wirkte sich die Fütterung jedoch weder auf die Wintersterblichkeit, noch auf die körperliche Verfassung der Rehe, noch auf den Zuwachs aus. Im Untersuchungsgebiet bestand auch ohne eine Winterfütterung zu keiner Jahreszeit Futternot. Der einzige, die Dichte beeinflussende Populationsparameter, der sich im Zusammenhang mit künstlichem Futterangebot änderte, war die Abwanderungsrate. Sie nahm nach Einstellung der Winterfütterung vorübergehend zu. Sogar bereits etablierte, adulte Geißen wanderten vermehrt mit ihrem Nachwuchs ab. Durch Fütterung wird somit das Kolonisationsverhalten und damit die Verteilung der Rehe beeinflußt. Würde in sämtlichen Jagdrevieren auf eine Fütterung verzichtet, wäre damit aber nicht zwangsläufig eine großräumige Absenkung der Rehwilddichte verbunden.

Der Versuch zeigte, daß bei einer zurückhaltenden Bejagung vor allem auch der weiblichen Stücke, ein Rehwildbestand nicht durch Bejagung begrenzt wird, sondern sich selbst reguliert. Die Abwanderung war der mit Abstand bedeutendste Regulierungsfaktor. Er machte bei den einjährigen und adulten Rehen mehr als die Hälfte der jährlichen Gesamtverluste aus. Die Jagd hatte nur einen Anteil von etwa 1/3 der Gesamtverluste eines Jahres. Eine dichteabhängige Abwanderungsrate war vor allem bei den einjährigen Stücken festzustellen: Bei der hohen Frühjahrsdichte von 70 bis 80 Rehen pro 100 ha Wald verschwanden jährlich mehr als die Hälfte des Jährlings- und Schmalrehbestandes allein während des Sommerhalbjahres. Bei einer Dichte von ca. 40 Rehen pro 100 ha war dagegen die Bilanz aus Zu- und Abwanderung ausgeglichen. Vermutlich wurde die Biotopkapazität des Untersuchungsgebietes zumindest in der Versuchsphase mit Winterfütterung überschritten. Obwohl die Jagdstrecke mit 25 Stück/100ha Wald zu Versuchsbeginn und 11-16 Stück/100ha bei Versuchsende gemessen am Landesdurchschnitt recht hoch lag, hätte der Abschuß vermutlich fast verdoppelt werden können, ohne daß eine gravierend andere Bestandsentwicklung zu erwarten gewesen wäre.

Die Verbißbelastung der holzigen Pflanzen schwankte von Jahr zu Jahr in weiten Grenzen ohne engen Bezug zur Wilddichte. Allenfalls eine leicht abnehmende Verbißbelastung zeichnete sich mit rückläufiger Wilddichte ab. Für die Hypothese, daß sich durch eine Winterfütterung Wildschäden vermindern lassen, gab es keine Unterstützung. Nach Einstellung der Winterfütterung nahm die Verbißbelastung, nicht zu, obwohl dies trotz der rückläufigen Wilddichte nach Überschlagsberechnungen zu Nahrungsangebot und -bedarf erwartet wurde. Der höchste Verbiß trat nach einem schneereichen Winter in der ersten Versuchsphase mit Fütterung auf. Alle Befunde sind zwar einzuschränken auf Verhältnisse, wie sie im Untersuchungsgebiet bestanden. Dazu zählt insbesondere, daß es im Laubholz nur Naturverjüngung (mittlere Höhe 30 cm) unter geschlossenem Kronendach in mittelalten Beständen gab und daß der Wald von Feldflur mit reichem Nahrungsangebot umgeben war. Aber dennoch dürfte für die Mehrheit der Jagdreviere in Baden-Württemberg gelten, daß eine Winterfütterung von Rehen im Normalfall weder biologisch notwendig noch sinnvoll ist und sich auch nicht generell als Hilfsmittel zur Wildschadensvermeidung eignet.

Konsequenzen für die Praxis

Zur Frage "Wie viele Rehe verträgt der Wald?" gibt es keine allgemein gültige Antwort. Zwischen der Verbißbelastung der Waldvegetation und der Wilddichte bestehen keine straffen Zusammenhänge. Bei einem Rehwildbestand im Bereich der Biotopkapazität ist grundsätzlich die höchste Verbißbelastung zu erwarten. Ob damit ein forstwirtschaftlicher Schaden verbunden ist, hängt aber von der waldbaulichen Situation ab. Im Normalfall ist die Biotopkapazität eine Unbekannte. Sie ist außerdem keine Konstante, sondern Schwankungen im Laufe der Zeit unterworfen und vor allem von Ort zu Ort ganz verschieden. Eine Optimierung der jagdlichen Nutzung, wie auch die Verminderung der Verbißbelastung lassen sich nur erreichen, wenn der Rehwildbestand unterhalb der Biotopkapazität gehalten wird. Dies setzt einen jagdlichen Eingriff in ausreichender Höhe voraus. Eine traditionell eher zurückhaltende Bejagung erfüllt ihren Zweck als Regulativ aber häufig nicht. Es bestätigt sich mit den vorliegenden Untersuchungen, daß zur Planung der jagdlichen Nutzung weder die Anlehnung an überlieferte Richtwerte zu angeblich tragbaren Wilddichten noch irgendwelche Zuwachseinschätzungen hilfreich sind. Rehe lassen sich nur mit aufwendigen wissenschaftlichen Methoden zählen. Diese Verfahren sind in der normalen Revierpraxis aber nicht durchführbar. Bei einer Ausgangslage mit untragbarer Verbißbelastung kann das Problem also nur durch von Jahr zu Jahr fortgesetzte Abschußerhöhungen bei Kontrolle der Verbißsituation gelöst werden. Das in Baden-Württemberg eingeführte forstliche Gutachten zum Abschußplan stellt somit in der Praxis ein einfaches und brauchbares Instrument der Abschußplanung dar, um vor Ort einen Ausgleich zwischen Wild und Wald herbeizuführen. Einerseits ist beim Waldbau auch das Wild als natürlicher Standortfaktor zu berücksichtigen, andererseits ist nicht zu befürchten, daß die Rehe durch intensivere Bejagung in Existenzschwierigkeiten geraten. Die Untersuchung hat auch gezeigt, daß der Rehwildbestand eines kleinen Waldgebietes keine isoliert zu betrachtende Einheit ist. Er steht im Austausch mit den benachbarten Gebieten. Wer den Zuwachs nicht abschöpft, verschenkt einen Teil der möglichen jagdlichen Nutzung. Davon profitiert der Nachbar, wenn er intensiver jagt. Umgekehrt löst ein durch sehr intensive Bejagung bedingtes Dichtegefälle einen Sogeffekt aus. Das heißt, bei sehr unterschiedlichen Formen der Rehwildbewirtschaftung besteht ein weiteres Konfliktpotential, das nur mit einvernehmlichen, revierübergreifenden Absprachen zur Rehwildbejagung vermindert werden kann.

Literatur
Abschlußbericht März 2000:Schriftenreihe Wildforschung in Baden-Württemberg Band 5. Hrsg.: Wildforschungsstelle des Landes Baden-Württemberg bei der Staatlichen Lehr- und Versuchsanstalt Aulendorf

Fördernde Institution
MLR

Förderkennzeichen
LVVG


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