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Stiellähme - was steckt dahinter, was hilft dagegen?


Dr. Dietmar Rupp, Staatliche Lehr- und Versuchsanstalt für Wein- und Obstbau Weinsberg


Nach der Eisenchlorose ist die Stiellähme die bedeutendste der sogenannten physiologischen Störungen der Rebe. Während bei der Chlorose die biologischen Abläufe weitgehend bekannt sind, bestehen bei der Stiellähmeentstehung noch viele Unklarheiten.
Bereits die Abgrenzung der Stiellähme von anderen Beschädigungen am Stielgerüst und von anderen Welkeerscheinungen ist nicht einfach.


Lahm, welk und schrumplig

So kann das Einschrumpeln von Beeren oder das Verwelken von Traubenteilen unterschiedlichste Ursachen haben. Einfach ist es bei Sonnenbrandschäden, denn diese zeigen sich folgerichtig nur an sonnenexponierten Traubenbereichen. Von Stiellähme wird dann gesprochen, wenn der Traubenstiel oder der geschädigte Bereich im Stielgerüst eindeutige Gewebeschädigungen mit Einsenkungen und Absterbeerscheinungen zeigt. Vielfach sind diese Nekrosen von Pilzen besiedelt. Ob dann das Botrytismycel die Stielschäden ursächlich ausgelöst hat oder ob es nur für den Folgeschaden verantwortlich ist, lässt sich dann kaum noch feststellen. Ebenfalls schwierig ist die Ursachensuche bei deutlich ungleichen Zuckergehaltsentwicklungen von Beeren innerhalb einer Traube. Denn auch bei der natürlichen Oechslesteigerung durch Eintrockung bei Überreife ist die Leitfähigkeit des Traubengerüstes nicht mehr voll gegeben. Weitere Erklärungsnot besteht beim Abbrechen der Zuckereinlagerung zu Beginn und während des Reifeverlaufs. Die dabei deutlich auffallenden "abgestandenen" Beeren finden sich meist an der Traubenspitze oder an Seitenachseln, aber nicht bei allen Sorten gleichermaßen und auch nicht in jedem Jahr. Um die Verwirrung komplett zu machen, ist zu diesen Symptomen ist in den letzten Jahren noch die Traubenwelke oder "Zweigelt-Krankheit" hinzugekommen (Abbildung 1).
 

Traubenschäden durch Welke und Stiellähme: a) eindeutige Stielschäden bei Gutdel, b) Lemberger: Stiellähme mit welken und prallen Beeren zugleich, c) Traubenwelke in einer überhangenen Zweigeltanlage, d) "abgestandene", welke unreife Beeren bei Trollinger
Abbildung. 1: Traubenschäden durch Welke und Stiellähme: a) eindeutige Stielschäden bei Gutdel, b) Lemberger: Stiellähme mit welken und prallen Beeren zugleich,
c) Traubenwelke in einer überhangenen Zweigeltanlage, d) "abgestandene", welke unreife Beeren bei Trollinger

Aus den 1960er und 1970er Jahren datieren in Deutschland und der Schweiz die ersten umfassenden Untersuchungen zur Stiellähme, bei offenen Böden zeigten sich damals bei hohen Rieslingerträgen viele "Bodentrauben". So war frühzeitig klar, dass die Stiellähme nicht durch Schaderreger, sondern durch eine Störung der physiologischen Abläufe ausgelöst wird. Allerdings gelang es bis heute nicht, eine einzelne entscheidende Ursache zu finden. Auch bei Sichtung der neuesten verfügbaren internationalen Forschungsergebnisse bleibt beim Stiellähmegeschehen als Erklärung nur die Rettung durch den "Ursachenkomplex", also dem Zusammenwirken mehrerer, oftmals unterschiedlich ausgeprägter Effekte.
 
Mehrere Faktoren wirken gleichzeitig
 
Das Schaubild in Abbildung 2 fasst den derzeitigen Kenntnisstand zusammen.

Neben Sorte und Unterlage beeinflussen der Rebwuchs, der Boden und vor allem die Witterung das Auftreten der Stiellähme. Entscheidend ist die Temperatur im Zeitraum kurz vor der Blüte und der Bodenwasserhaushalt zum Reifebeginn
Abb. 2 Neben Sorte und Unterlage beeinflussen der Rebwuchs, der Boden und vor allem die Witterung das Auftreten der Stiellähme.
Entscheidend ist die Temperatur im Zeitraum kurz vor der Blüte und der Bodenwasserhaushalt zum Reifebeginn.

 

Erkennen lassen sich vier verschiedene Einflussfaktoren, die in zwei wichtigen Zeitabschnitten der Traubenentwicklung unterschiedlich ausgeprägt sein können. Am Anfang steht hier die genetische Grundlage (Sorte, Unterlage). Trauben mit großem und langem Stielgerüst wie etwa bei Lemberger gelten daher als anfällig. Steht eine derartige Sorte auf einer starkwüchsigen Unterlage und auf einem fruchtbaren Standort, so ist die Stiellähme vorprogrammiert. Die in den 1980er Jahren aufgekommenen Begrünungen haben daher mit ihrer wuchsdämpfenden Wirkung wesentlich zum Verschwinden der Bodentrauben beigetragen. Dies zeigt den nicht zu unterschätzenden Beitrag des Bodens. Neuseeländische Untersuchungen zeigten, dass sich mit direkten Maßnahmen zur Wuchsbremsung wie etwa einem Wurzelschnitt, die Stiellähme deutlich verringern ließ. Eine starke Anregung des Triebwachstums führte hingegen zur Steigerung der Stiellähme. In Australien wurden Traubenstiele mit verschiedensten Stoffen (Ammoniumsulfat oder Pflanzenhormonen wie Auxin und Abscisinsäure) traktiert, um Stiellähme gezielt auszulösen. Obwohl hinterher im Stielgerüst kaum Ammonium (NH4) gefunden wurde, war bei dieser Variante der Schaden am größten. Wohl nicht ohne Grund gilt daher eine erhöhte und späte Ammoniumfreisetzung im Weinbergsboden seit langem als Stiellähmerisiko. In den Versuchen wurde übrigens den Traubengerüsten an Nachbarrebstöcken noch zusätzlich Calcium und Magnesium eingeflößt, was aber ohne nennenswerten Einfluss blieb. Interessant und verwirrend zugleich ist die Tatsache, dass die gleiche Forschergruppe in einem anderen Jahr gute Erfolge erzielen konnte, wenn bis in den Reifeverlauf hinein mehrmals Magnesiumsulfat (Bittersalz) auf die Trauben gesprüht wurde. Nimmt man für das Auftreten der Stiellähme Zellschädigungen und Gewebezusammenbrüche als Ursache, so ist es nicht erklärbar, dass Calciumspritzungen im vergleichbaren Fall bei Kernobst gegen Stippe wirken, gegen Stiellähme an Trauben aber ohne Wirkung sind. Vor allem deswegen, weil sowohl beim Apfel als auch bei Trauben die Ca-Aufnahme während der Reife zum Erliegen kommt, der Zustrom von Kalium und Magnesium aber weiterhin anhält (Abbildung 3).

Mit dem Beginn der Traubenreife wird kaum noch Calcium aber vermehrt Kalium in die Beeren eingelagert (OLLAT, 1996, verändert). Der parallel laufende Magnesiumzustrom wird vermutlich aus den Vorräten des Stielgerüsts und der nächstgelegenen Blätter gedeckt
Abb. 3 Mit dem Beginn der Traubenreife wird kaum noch Calcium aber vermehrt Kalium in die Beeren eingelagert (OLLAT, 1996, verändert).
Der parallel laufende Magnesiumzustrom wird vermutlich aus den Vorräten des Stielgerüsts und der nächstgelegenen Blätter gedeckt.

  

Während nun die Calciumaufnahme im Lauf des Jahres nur noch auf die Wasser verdunstenden Blätter beschränkt bleibt, scheint die Magnesiumlieferung an die Beeren und Traubenkerne weiterzugehen. Vermutlich kommt es zu einer Umlagerung zu Lasten der nächstgelegenen Blätter (Mg-Mangel-Symptome in der Traubenzone !) und der Stielgerüste. Da passt ins Bild, dass nach Beobachtung des Weinbauinstituts in Freiburg bei sehr später und starker Entblätterung vermehrt Stiellähme auftritt. Bei den bislang noch nicht aufgeklärten Vorgängen der Traubenwelke ("Zweigeltkrankheit") wird ein eventueller Kalium-Mangel oder eine Störung des Wasserhaushaltes im Rebstock ins Spiel gebracht.
 
Kälte und Regen - auch das Wetter ist entscheidend
 
Auch bei der Stiellähme machen Beobachtungen aus der Praxis die Wasserführung des Bodens auch für das Ausmaß der Schäden verantwortlich: Folgen während der Reifezeit auf eine ausgeprägte Trockenphase starke Niederschläge, tritt in vielen Jahren verstärkt Stiellähme auf. Offenbar kann das Leitbahngewebe im Stielgerüst dann die unterschiedlichen Quellungszustände nicht mehr ausgleichen und es kommt zur Schädigung und zum Absterben von Zellen.
Bereits Anfang der 1970er Jahre zeigten Untersuchungen in der Schweiz, dass diese Schädigungen unter Umständen auch schon während der Blüte vorprogrammiert sein können.
Nach dieser Hypothese führt eine verzögerte Blüte zu einem ungleichen Alter der Rebkerne und in Folge zu einer ungleichen Entwicklung des zugehörigen Leitbahngewebes im Stielgerüst. Denkbar ist auch, dass durch das ungleiche Alter der Traubenkerne die Reife- und Alterungsprozesse in benachbarten Stielbereichen unterschiedlich ablaufen. Tatsächlich fanden sich bei anderen Untersuchungen in Stiellähmetrauben deutliche höhere Abscissinsäuregehalte (= Reifungshormon) als in gesunden Traubenstielen.
Kühles, nasses Blühwetter führt also nicht nur zur Verrieselung sondern kann auch Stiellähme auslösen.
Glücklicherweise tritt dieser Zusammenhang bei uns immer seltener in Erscheinung. So gab es in der jüngsten Vergangenheit etliche Jahre, die anhand des Witterungsverlaufs während der Blüte stärkste Stiellähmeschäden befürchten ließen - die aber nicht auftraten.
Offenbar ist nicht das Pollenschlauchwachstum oder die Befruchtungsrate und damit das Blühwetter, sondern die Zeit vor der Rebblüte - und damit der Reservestoffvorrat der Reben viel entscheidender. Bei Beobachtungen an Cabernet Sauvigon in Südaustralien zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Stiellähme und den Temperaturen im Drei-Wochen-Zeitraum vor dem Aufblühen.
Seit Jahren registrieren wir in unserem Raum einen zunehmend kräftigeren Rebwuchs mit zunehmend kompakten Trauben. Ob dadurch auch die "Vorprogrammierung" der Stiellähme weniger geworden ist, muss allerdings spekulativ bleiben.
 
Ausgeglichenen Wuchs anstreben, Magnesium spritzen
 
Wenngleich die Menschheit verstärkt in das globale Klimageschehen eingreift, kann der Weingärtner weder die Jahreswitterung noch das Blühwetter in seinem Sinne beeinflussen.
So bleibt zur Verhinderung von Stiellähme relativ wenig Spielraum. Neben der grundlegenden Entscheidung für eine bestimmte Sorte oder Unterlage bleiben bei Ertragsanlagen nur die Maßnahmen der Kulturführung übrig. Anschnitt, Ertragsniveau und zugehörige Laubarbeit (Ausbrechen, Gipfeln, Entblättern) müssen ein ausgewogenes Wachstum zum Ziel haben. Einseitige Stockbelastungen und/oder Schwach- oder Pendeltriebe mit schlechtem Blatt-Fruchtverhältnis sind zu vermeiden. Bei der Bodenpflege dürften die Risiken früherer Jahre kaum noch auftreten, bereits aus Sorge vor Traubenfäulnis wird niemand im Reifezeitraum stark in den Boden eingreifen. Ob nun physiologisch erklärbar oder nicht - in einigen Jahren konnte durch Magnesiumspritzungen in die Traubenzone tatsächlich eine Minderung (keine Verhinderung!) der Stiellähme erreicht werden (Tabelle 1). Dabei war die ausgebrachte Magnesiumform nicht entscheidend. Viel wichtiger war der Zeitpunkt. Denn vor allem späte Behandlungen haben sich als besonders wirksam erwiesen. Durch Weinausbauversuche bei Riesling und Lemberger konnte zudem mehrfach gezeigt werden, dass die Gefahr von Geschmacksbeeinträchtigungen (Bittertöne, Böckser) nicht besteht. 
 

Tabelle 1: Blattdünger zur Stiellähmebekämpfung (Auswahl)

Magnesiumgehalt

als MgO (%)

Sonstige Nährstoffe

(%)

Aufwandmenge *

(kg bzw. l / ha)

Bittersalz EPSO TOP

16

0,9 B / 1,0 Mn / 13 S 

15 - 25

Bittersalz microtop

15

0,9 B / 1,0 Mn /12 S

15 - 25

Falnet®

83

  4 - 7

Folicin- Mg plus

9,3

6,8 N / 1,4 Mn / 1,1 S

  1 - 3

Lebosol®-Magnesium500

33

4

* maximale Konzentration der Spritz- oder Sprühflüssigkeit bei Bittersalz: 4 %, alle andere: 1 - 1,5 %

  
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